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Sequenz in sechs Episoden für Orchester
Ist eine in Musik gefaßte Erzählung einer schweren Krankheit mit voraussehbarem Ausgang.
Ein Herz, das nach und nach zu schlagen aufhört: der Herzschlag ist unregelmäßig schnell und gehetzt, er stellt das Leitthema der gesamten Komposition dar (es wird im Orchester durch eine besondere, nicht-elektronische Perkussion interpretiert).
Das Elektrokardiogramm zeichnet den Verlauf bis hin zum endgültigen Herzstillstand unerbittlich und kalt auf.
Es ist derselbe Herzschlag, der, in den Erinnerungen des Patienten, die Liebesimpulse, die Erfolge und Mißerfolge, kurz gesagt, alles, was ein jeder von uns im Laufe seines Lebens erfährt, gekennzeichnet hat: Begeisterung, Enttäuschungen, große und kleine Siege und Niederlagen.
Der Patient versteht unbewußt, daß es keine Rettung für ihn geben wird: Er steht allein sich selbst gegenüber, er ist auf unerbittliche Weise allein, wie dies in den äußersten Momenten der Fall ist.
1. EPISODE
UNTERBROCHENER SCHLAF
Ein Mann schläft ruhig. Plötzlich reißen ihn seltsame, donnerähnliche Schläge, die ihm die Brust zu zerreißen scheinen, aus dem Schlaf. Während er bisher keinerlei körperliche Beschwerden oder Krankheiten hatte, fragt er sich nun voller Schrecken, was wohl die Ursache für diesen heftigen Schmerz gewesen sein mag.
Daraufhin beruhigt er sich und seine innere Ruhe kehrt zurück.
2. EPISODE
BLITZ
Durch einen plötzlichen Geistesblitz versteht der Mann, daß sein Körper von einer schweren Krankheit befallen ist. Er muß Ärzte herbeirufen und sich ihrem Urteil unterstellen.
DIAGNOSE
Die untersuchenden Ärzte stellen ohne Gefühlsäußerung fest, daß es sich um eine gravierende Krankheit handelt, die vielleicht nicht heilbar ist. Aber warum sollte man die Hoffnung aufgeben? Die Medizin vollbringt in bestimmten Fällen Wunder.
3. EPISODE
ZWEIFEL
Der Kranke wird vom Zweifel gequält.
Er klammert sich an die letzten Worte der Ärzte: Gibt es vielleicht ein Mittel zur Heilung oder ist er endgültig zum Tode verurteilt?
BESORGNIS
Die Besorgnis nimmt ständig zu (mit dem Herzschlag, der diese Zunahme kennzeichnet), bis sie schließlich umkippt in den
SCHRECKEN
Der Mann wird zur Beute eines fast animalischen Schreckens. Ihm fällt es schwer, sich davon zu überzeugen, daß der Tod nicht mehr fern ist.
4. EPISODE
RESIGNATION
Den Geist des Kranken überfällt einer plötzliche moralische und körperliche Müdigkeit und an die Stelle der Angst tritt eine Art von resigniertem Akzeptieren des unabwendbaren Schicksals: eine vorübergehende Ruhe erfüllt seinen Körper und seinen Geist.
FRAGEN
Ängstlich stellt er sich Fragen bezüglich des Verlaufs der ihn betreffenden Krankheit, ihrer Dauer und, warum nicht, einer möglichen Heilung.
HOFFNUNG
Indem die Hoffnung an die Stelle der Resignation tritt, nimmt er das Gespräch mit sich selbst wieder auf und stellt fest, wie sich sein Leben nach jener schrecklichen Nacht verändert hat. Gleichzeitig ist aber die Hofnung zu einem integralen Bestandteil seiner Art geworden, die Zukunft zu sehen.
5. EPISODE
ERINNERUNGEN
Zusammen mit der wiedergefundenen Hoffnung greifen jetzt auch die Erinnerungen ein: die an seine Jugend und insbesondere die an seine Liebschaften, die die wahrhaft glücklichen Augenblicke seines Lebens darstellten. Das nunmehr kranke Herz erlebte damals einen ebenso intensiven und beschleunigten Herzschlag und markierte die überschäumenden Momente seines Lebens.
GEBETE
Warum sich nicht in seiner verzweifelten Einsamkeit dem Höchsten Wesen nähern, das es auf die eine oder andere Weise geben muß, wenn im Moment des Loslösens Er den einzigen Halt darstellt, an den sich die nunmehr fühlbare Hoffnung auf eine mögliche Zukunft im Jenseits klammern kann?
6. EPISODE
HALLUZINATIONEN
Es kommt jedoch zu einem erneuten Anfall, und sein Geist ist jetzt die Beute von unkontrollierbaren Halluzinationen: Vor seinen Augen wirbelt alles in einem unbeschreiblichen Chaos auf. Der eigentliche Endkampf beginnt.
EPILOG
Herz und bevorstehendes Schicksal sind nunmehr durch denselben Rhythmus gekennzeichnet. Das ganze Orchester unterstreicht diesen Herzschlag durch ein erbarmungsloses und unregelmäßiges Crescendo, bis das Herz nach und nach zu schlagen aufhört: Das Elektrokardiogramm ist platt. An die Stelle der Schmerzensmaske tritt die Ruhe des Leichnams, die das Gesicht erfüllt und es entspannt.
Alberto Bruni Tedeschi komponierte dieses Ballett zwischen 1992 und 1994, als er sich noch bester Gesundheit erfreute.
Er spürte das Bedürfnis, die Krankheit und das Lebensende eines Menschen zu beschreiben.
Seltsamerweise erkrankte er, kaum daß er die Arbeit abgeschlossen hatte und bereits eine andere, entschieden amüsantere Komposition begonnen hatte. Er lebte noch eineinhalb Jahre mit seiner Krankheit bis zu seinem Tod, genau so, wie er es in seinem Ballett vorhergesehen hatte.
Er hatte sich vorgestellt, was ihm geschehen würde: die Schrecken der Wiederbelebungen, die Visionen des Jenseits, die Erinnerungen an das Leben, die nichtendenwollende, ganze Tage andauernde Stille, diese unendliche Reise ins eigne Innere als Vorbereitung auf eine andere Reise ins Mysterium; die Trennung von den Dingen und den Personen seines Lebens, das jetzt durch die Behandlungen der Ärzte und Krankenschwestern eingeteilt und gekennzeichnet ist, von der Anbetung der Familienangehörigen, die zu allem bereit waren, um ihm zu helfen, von den schlaflosen Nächten voller Hoffnungen und Entmutigungen.
Ihm war es nicht vergönnt, seine letzte Komposition zu hören. Vielleicht komponierte er sie unbewußt, damit wir Verbliebenen - dadurch, daß wir sie zu Gehör bringen - im Nachhinein, zu verstehen und verständlich zu machen vermögen, was ein Mensch fühlt, dessen Leben sich dem Ende zuneigt.
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