PAOLINO, DIE GERECHTE SACHE UND EIN GUTER GRUND
Ein Akt mit Musik
Text und Musik: Alberto Bruni Tedeschi
Personen und Darsteller:
Paolino: Blumenzüchter (und Trinker)
Die gerechte Sache
Ein guter Grund
Kommentar zu Paolino
Paolino ist keine Persönlichkeit, und ich wollte auch nicht, daß er eine ist.
Er ist eine Abstraktion, eine Weise zu denken, die Dinge auf eine bestimmte Art zu sehen. Seine Sprache ist nicht verschieden von der unseren, sie ist, wenn man so will, durch eine gewisse Schärfe und Kultur gekennzeichnet, was zumindest für einen Blumenzüchter und Säufer ungewöhnlich ist.
Hätte man die Primitivität des Mannes auf die Sprache übertragen, so hätte man ihn entstellt, sein Wesen verändert und ihn in eine wirkliche Figur verwandelt, also in das genaue Gegenteil dessen, was ich darstellen wollte.
Paolino spricht von sich und von den anderen, er lehnt das Konsumverhalten ab und damit die gegenwärtige Welt, so wie wir, und auch er selbst, sie verstehen. Er ist melancholisch, weil die Melancholie zu seinem Wesen gehört. Er fühlt sich allein, und er spürt die Melancholie in sich hochsteigen, ohne die Kräfte zur Rebellion aufbringen zu können. Im Gegenteil: Isoliert und eigensinnig will er die Brücken zu seinesgleichen gänzlich abbrechen.
Er ist schließlich ein Misanthrop. Er glaubt, nie wirklich geboren zu sein und wie die anderen gelebt zu haben. In dieser Hinsicht ist er ein Vertreter einer grobschlächtigen pantheistischen Lehre. Eine Sache hat er allerdings verstanden: Je mehr er allein bleiben wird, desto stärker wird seine Droge von ihm Besitz ergreifen (seine Droge sind die Blumen ebenso wie der Wein) und desto stärker wird er das unverzichtbare Bedürfnis verspüren, sich von den Menschen zu entfernen und sich den Tieren anzunähern. Sein Wunsch wird es sein, zu einem Tier zu werden und mit ihnen ihr Leben zu teilen. Er möchte, kurz gesagt, auf etwas naive Weise zu den Ursprüngen der Welt zurückkehren, nämlich einzig lebender Mensch auf dieser Erde sein, um in völliger Freiheit zusammen mit seinen Katzen oder seinen Schafen zu leben, als Katze unter Katzen und als Schaf unter Schafen, und um ihrem Schicksal zu folgen und ihre Sprache zu sprechen. Diese Neigung Paolinos erinnert in gewisser Weise an Hippie-Denkweisen und an bestimmte indische Kontemplationslehren.
In dem Stück gibt es zwei andere Figuren: Die gerechte Sache und Ein guter Grund. Sie sind Paolinis Begleiter in Paolinis der letzten Nacht seines Lebens, aber in Wirlichkeit war es Die gerechte Sache, die ihm stets nahestand und seine langen, einsamen Tage mit ihm teilte. Ein guter Grund tritt erst in der letzten Nacht auf, und zwar deshalb, weil sie seine beiden Parzen darstellen: die gerechte Sache hat den Lebensfaden solange gesponnen, bis die Wolle ausgegangen ist, ein guter Grund tritt auf, um den Faden durchzutrennen.
Ich habe Paolino kennengelernt, genauer gesagt, ich kenne ihn, weil er noch lebt und arbeitet (er ist, wie schon gesagt, von Beruf Blumenzüchter). Seine Mutter ist, so glaube ich zumindest, ebenfalls noch am Leben. Paolino hat stets übermäßig viel getrunken, aber ich glaube, daß es den Ärzten gelungen ist, sein Laster einzuschränken, was ihn allerdings noch trauriger und schweigsamer gemacht hat.
Manchmal besuche ich ihn oben im Gewächshaus. Ich stelle ihm einige Fragen, z.B. zu den Blumen, die er gerade züchtet. Praktisch antwortet er mir nicht: Er führt zwei Finger zu seiner Mütze (die er immer und zwar stets schief auf dem Kopf trägt) als Zeichen einer gewissen Anerkennung und zur Begrüßung. Er sieht mich wie bestürzt mit seinen in das faltige Gesicht eingelassenen mandelförmigen Augen an und macht dabei einen ganz traumverlorenen Ausdruck. Was denkt er, wie lebt er? Das habe ich mich immer schon gefragt, ohne ihn jemals verstanden zu haben, besser gesagt, mir ist klar, daß sein eigensinniges Schweigen, sein finsteres Leben eine bestimmte Art verbergen, das Leben, sein Leben auf eine Art zu interpretieren, die gänzlich verschieden von der unseren ist.
Auf diese Weise ist Paolino entstanden. Ich habe ihn mir in meiner Phantasie vorgestellt: Er hat mich auf meinen langen Flügen einer zermürbenden Reise begleitet, er hat meinen, wegen der Zeitzonenwechsel zuweilen schlaflosen Nächten Trost gespendet.
Paolino ist geboren, um eine musikalische Arbeit zu werden, aber vielleicht wird diese Musik niemals geschrieben werden. Der Text ist mir derart über den Kopf gewachsen, daß es höchstwahrscheinlich schwierig für mich sein wird, ihn wieder auf ein solches Maß zu reduzieren, das einem echten Musikwerk angemessen ist. Es ist daher wahrscheinlich, daß er so bleibt, wie er ist. Er stellt meinen kleinen Mitsommertraum dar: Die Musik, die in mir entstand, während ich den Text schrieb, wird sich so, wie sie gekommen ist, auch wieder in Luft auflösen.
Von Paolino wird nichts weiter bleiben als die Erinnerung. (August 1975, Rückreise)
DIE SZENE
Grauer Innenraum: ein großer, robuster Tisch aus unbearbeitetem Holz in der Mitte; drei Stühle um den Tisch herum, zwei seitlich und einer in der Mitte; auf dem Tisch stehen vom Betrachter rechts aus eine Blumenvase und links eine Weinflasche und ein Glas.
Eine große im Schatten stehende Glaswand bildet die Rückseite des Bühnenbildes.
Die Szene ist nur schwach beleuchtet: ein spärliches Licht erhellt den Tisch. Auf dem mittleren Stuhl sitzt Paolino, gedankenvoll und schweigsam.
Er trägt einen zerrissenen, verblaßten Arbeitsanzug und eine schiefsitzende, an der Stirn nach oben gestellte Mütze.
Er ist ein alter Mann, aber vielleicht sieht er älter aus als er in Wirklichkeit ist. Er ist abgezehrt von der alltäglichen Mühe, von der Sonne, die ihm frühzeitig das Gesicht zerfurcht hat, und seine Hände zittern von dem langen Trinken. Vor allem sieht er aber resigniert und müde aus, was sich in seinen nunmehr schon gewohnheitsmäßigen, vagen Gesten niederschlägt, die derart methodisch, fast roboterhaft ausgeführt werden, daß sie eine ganze Art des Seins, Denkens, Meditierens zum Ausdruck bringen, so daß sie beim Publikum den Eindruck einer untröstlichen und hoffnungslosen Einsamkeit hinterlassen.
Mit anderen Worten, Paolino ist ein einsamer Mensch unter einer Unzahl seinesgleichen, die er weder sieht noch kennt (er wünscht es auch gar nicht!), und in einer ihm gleichgültigen Welt, egal, ob sie in Aufruhr ist oder nicht, ob Frieden oder Krieg herrscht, ob sie den Mond und den Wohlstand durch Fortschritt oder noch andere Dinge, die ihr nützlich sein können, erobert. Er ist im wesentlichen ein Misantroph. Im Grunde genommen ist es für ihn nur von Bedeutung, Blumen zu züchten und, mit dem durch den Verkauf realisierten Gewinn, Wein zu kaufen und zu trinken. Der Zyklus seines Leben schließt sich ohne weitere wichtige Interessen. Gleichwohl ist Paolino stets ein Mensch, ein Vernunftwesen, d.h. seine Art, die Dinge zu sehen (unabhängig davon, ob sie ihn interessieren oder nicht), seine Reaktionen auf Ereignisse, die nichts mit ihm zu tun haben, seine Art, diese zu interpretatieren schaffen bestimmte Gefühle (oh, nichts Übertriebenes versteht sich!), die seinem Aussehen eine bestimmte schaudererregende Wirkung verleihen, die sofort durch Trinken unterdrückt wird, durch das Betrachten seiner Blumen, durch eine ausweglose Resignation, mit der er die äußeren Ereignisse überprüft.
Wir hören also, wie Paolino mit sich selbst spricht: Dieses Selbst ist dargestellt durch eine gerechte Sache, die ihm zum Reden dient, und einen guten Grund zum Trinken und zum Sterben (aber hat Paolino wirklich gelebt?)
DER VORHANG HEBT SICH
Der Mann gießt und trinkt abwechselnd und methodisch
Es tritt Die gerechte Sache auf: Sie ist eine Frau, die nicht eigentlich alt, sondern vielmehr ohne Alter ist. Fast ausdruckslos, trägt sie eine lange graue Tunika, die denselben Grauton der Wände des Bühnenbildes hat. Ihr durch Resignation und Schmerz gekennzeichnetes Gesicht besitzt eine gewisse Milde. Sie tritt still auf. Sie streichelt Paolino sanft am Kopf. Dieser sieht sie verstohlen an, fast als ob er sie gar nicht bemerkte, und fällt sodann in seine finstere Stimmung zurück.
Die gerechte Sache Nun, Paolino?
Paolino Was ist? Was willst du?
Die gerechte Sache Ich bin` s, Paolino, deine gerechte Sache.
Paolino Ach, immer du... Ich weiß schon nicht mehr, was ich dir sagen soll. Ich brauche keine gerechten oder ungerechten Sachen mehr zum Reden ...
Die gerechte Sache Ja natürlich, Paolino. Dir scheint es, als ob du mich niemals brauchtest. Aber an manchen Abenden, wenn eine Blume nicht so wuchs, wie du es wolltest, oder überhaupt nicht wuchs, oder wenn dir der Wein schlecht bekam, was hättest du da ohne mich gemacht? Man braucht immer jemanden ...
Paolino Ich habe immer für mich allein gelebt, ohne jemals mit jemandem gesprochen und ohne auf jemanden gehört zu haben. Und es war ein recht langes Leben ... Nur Schatten kenne ich, verstehst du, wie unscharfe Fotografien.
Ich gehe auf der Straße zwischen all den Leuten, die mich schubsen, mit sich ziehen, stoßen, und sehe nur Schatten um mich herum. Bemerkst du vielleicht, wenn jemand an dir vorübergeht und dich dabei mit seinem Schatten berührt? Die anderen sind für mich nichts weiter als ein großes, mit Schatten bevölkertes Dunkel. Und ich bin ein auf den Boden niedergelegter Stein, auf dem sich die Leute, sofern sie Lust dazu haben, hinsetzen und ausruhen können, um später weiterzugehen. Es ist ja nicht so, daß die Leute, nachdem sie sich einer Sache bedient haben, zurücksehen ...
Die gerechte Sache Aber deine Alte siehst doch, wenn du abends nach Hause kommst... Und sie ist kein Schatten, so scheint es mir!
Paolino Ja, ich sehe sie: Sie schreit, zappelt, ist auf alles und alle böse, auch auf mich, der ich ihr gar nicht antworte. Gleich darauf aber trinken wir zusammen. Sie, voller Wut gegen die Welt, die ihrer Ansicht nach ungerecht ist, ich, resigniert und still ... Danach schlafen wir, einer neben dem anderen sitzend und die Köpfe auf den Tisch gestützt, glückselig ein.
Manchmal nimmt sie sogar meine Hand, aber genau in diesem Moment spüre ich, daß sie sich in einen Schatten verwandelt, und ich werde wieder zu Stein ...
Die gerechte Sache Aber eines Tages hat sie dich sogar zur Welt kommen lassen ...
Paolino Ach, warum nur darüber sprechen ... Sie erzählte mir, daß sie mich von jemandem bekommen hatte, auf den sie stets geflucht hatte und den sie nicht einmal kannte ... Ich bin wirklich davon überzeugt, daß ich ohne Zeugung geboren wurde.
Die gerechte Sache Paolino, wieviele Dinge haben wir uns nicht erzählt in all diesen langen Nächten! Nach dem Sonnenuntergang, dann, wenn das Licht im Gewächshaus schwächer wurde und du ruhig vor dich hin trankst, habe ich mich dir genähert, um dir in der endlich hereinbrechenden Nacht Gesellschaft zu leisten. Die Blumen hatten bereits eine dunkle Farbe angenommen, und du redetest, so wie du es jetzt tust.
Da es im Innersten von uns allen eine gerechte Sache gibt, damit man ihr das anzuver- trauen, was einen innerlich bewegt, ich meine, damit man mit sich selbst sprechen kann. Im Grunde genommen habe ich für deine Augen, für deinen Geist die Welt ersetzt, die du stets abgelehnt hast ...
Paolino Ach, ich habe sie abgelehnt, weil ich sie gut kennengelernt habe. Jetzt interessiert sie mich nicht mehr, das ist alles. (er gießt Blumen und trinkt) Hör mir einmal zu: Als ich Soldat war, lernte ich eines Tages eine Frau kennen (die einzige, das kannst du mir glauben!). Dann steckten sie mich wegen Alkoholismus in eine Anstalt. Bevor ich wieder nach Hause zurückkehrte, ging ich bei ihr vorbei, um sie zu grüßen. Glaube mir, bis dahin wußte ich nicht einmal, was eine Frau ist ... (und habe ich es denn vielleicht später erfahren?). Ich versichere dir, es war keine, für die du bezahlen mußt, es war eine einfache Frau, die irgendwo arbeitete, vielleicht war sie Arbeiterin oder etwas anderes ... Also gut. Weißt du, was dann passierte? Beinahe hätte sie mich nicht wiedererkannt, oder sie tat jedenfalls so ... Sie warf mir ein gleichgültiges: Ach, du bist es? zu, so, als ob sie sich an irgendjemanden wenden würde oder als ob sie eine ihrer Katzen oder jedenfalls ein Tier vor sich hätte. In genau jenem Augenblick wurde mir zum ersten Mal klar, daß diese Worte von weit her, über eine unendlich weite Ferne, kurz, von einer anderen Welt, von einem dieser Welt angehörenden Wesen zu mir drang ... Ich hingegen war hier auf der anderen Seite und versuchte, ihr zuzulächeln, weil ich fortging.
Ihre Worte Ach, du bist es?... Ach, du bist es? sausten mir in ihrer Gleichgültigkeit wie eine schauerliche Kantilene in den Ohren.
Schließlich sah ich die Katze. Sie existierte wirklich. Sie rieb sich an mir, sie schnurrte auch, vielleicht, weil sie mich für ihr Herrchen hielt.
Dann sah ich auch sie, und auch sie bemerkte mich endlich und begann zu reden...zu reden. Aber für mich hatte das keinerlei Bedeutung mehr: In der Zwischenzeit war ich die Katze geworden, die sie neugierig beobachtete: Ihre Figur wurde immer blasser (vielleicht haben die Katzen andere Augen!), sie verschwamm und entfernte sich immer mehr von mir, während sie fortwährend redete ... Was aber vermag eine Katze schon zu verstehen? Für meine Katzenohren waren es nur unförmige Klänge: Ich vernahm den Ton der Stimme, ob er hoch oder tief war, aber ich verstand die Bedeutung nicht.
Ich lief davon, mit der Katze hinter mir her. Ich hatte das seltsame Gefühl, daß ich selbst die Katze war und der Kater mir hinterherlief und daß ich ihn eigenartigerweise verstand. Ich verstand seine Gesten, und, das versichere ich dir, er sprach zu mir, rief mir etwas zu, und ich verstand ihn.
Dann haben wir uns aus den Augen verloren, aber an der nächsten Straßenecke kam mir eine unzählige Menge von Katzen entgegen, und ich, beinahe glücklich, gesellte mich zu ihnen. Später verloren auch sie sich in der Nacht und ich blieb allein...
(Paolino gießt abwechselnd die Blumen und trinkt.)
Die gerechte Sache Paolino, du bist jetzt sicher sehr müde und auch ein wenig melancholisch ...
Paolino Hast du dich jemals gefragt, was Melancholie wirklich ist?
Die gerechte Sache Ich weiß nur, daß deine Melancholie sehr tief in die Einsamkeit, Resignation und Misanthropie eingelassen, eingegraben ist.
Paolino Nein! Du kennst sie nicht wirklich. Für mich ist sie mehr als nur ein Seelenzustand, sie ist eine besondere Weise, die Dinge zu sehen, sie von einer bestimmten Perspektive aus zu betrachten.
Wenn ich früh am Morgen vom Dorf hier herauf ins Gewächshaus zum Arbeiten gehe, kommt häufig hinter meinem Rücken die Sonne über den Bergen hervor. Ich ziehe mir dann meine Mütze so über die Augen, daß sie mein Gesicht fast verdeckt. Und es passiert mir nicht einmal, daß ich zu mir sage: Sieh mal, wie schön, welch wundervoller Glanz, wenn die Sonne aufgeht!Ihr Licht wird immer intensiver, zu intensiv für denjenigen, der sie nicht sehen will. Ein Tag, der sich als schön ankündigt, stellt eine gewisse Hoffnung für den dar, der daran glaubt. Nicht für mich! Ich bin gezwungen, dieses verfluchte, mich überflutende Licht voller Wut zu erdulden. Und während ich weitergehe, blicke ich starrsinnig auf den Boden und drehe mich nie um.
Hierin besteht, so glaube ich, meine Melancholie.
Und wenn ich abends nach Hause gehe (ein wenig betrunken, das ist richtig!) - mein Dorf liegt dort am Ende des Abstiegs und die Lichter der Häuser sind bereits angeschaltet - dann verspüre ich einen schrecklichen, unerbittlichen Zangengriff, der mir das Herz zudrückt ... immer mehr zudrückt, während ich am Ende des Abstiegs bin und mich dem Dorf nähere. In diesem Augenblick wünschte ich mir, daß die Straße immer dunkler würde und ich die Häuser niemals erreichte.
Auch das ist, so glaube ich, Ausdruck meiner Melancholie.
Der Regen oder der Schnee, die kurzen Wintertage, die nunmehr in der Ferne verschwundenen Berge, das in den Nebel des Tals eingehüllte Dorf, meine Füße, die auf dem Weg im Schlamm der dunklen Straße einsinken, das vor Kälte erstarrte Gesicht, die Wärme des Gewächshauses, meine Blumen, die mich mit ihren matten Farben bei dem wenigen Licht empfangen und schließlich der Wein, der meine Einsamkeit und den brennenden Wunsch, allein zu sein, erwärmt - auch das ist noch, so glaube ich, meine Melancholie.
Du befindest dich in jedem Moment deines Lebens in ihrem Besitz, sie beherrscht dein ganzes Wesen, sie macht dich in einem ununterbrochenen, ungreifbaren und unaufhaltsamen Schmerz zunichte (er kehrt sich der gerechten Sache zu). Oh, du hast natürlich vollkommen recht! Die Melancholie erwächst aus einem Gefühl resignierter Einsamkeit. Demzufolge kann sie auch töten.
Die gerechte Sache Willst du damit sagen, daß deine Melancholie so tief geht, sich derart in deinem Inneren ausgebreitet hat und sich in jede deiner Fasern hineingeschlichen hat, daß sie nach und nach wie ein tristes Messer deine Bindungen zum Leben durchschneidet?
Paolino Ich bin jetzt an einem Punkt, wo ich nichts mehr vom Leben erwarte, und das Messer, von dem du sprichst, ist so trist nicht, sofern es seinem Zweck dient.
Ich glaube, heute nacht ...
Die gerechte Sache Was hat sich denn für dich in dieser Nacht geändert? Und wenn dies so sein sollte, hast du nie daran gedacht, daß es auch für dich einen Gott geben kann?
Paolino (er steht langsam vom Tisch auf; zuerst gießt er die Blume, dann trinkt er) Ich habe dir immer schon gesagt, daß ich den Eindruck hatte, geboren zu sein, ohne gezeugt worden zu sein. Das sagte mir in ihrer Ignoranz auch meine Mutter, arme Alte. Eben dies könnte dir vieles von mir erklären. Ich weiß nicht, woher ich auf die Welt gekommen bin. Ich war einfach da, und eines Tages werde ich wieder verschwinden, wie ein andersartiges Wesen, wenn du so willst. Niemand wird etwas bemerken, denn ich bin nicht wie sie. Ich habe nur Blumen gezüchtet und getrunken. Wer hat sich jemals um mich gekümmert? Wer, so frage ich, hat jemals meine Hilfe benötigt, mir irgend etwas gegeben?
Die gerechte Sache Aber hast du ihnen denn etwas gegeben?
Paolino Nein, denn für sie existiere ich nicht. Auch für Gott existiere ich nicht: Er hat mich nicht bemerkt, da ich in völliger Stille auf die Welt gekommen bin, einer tödlichen schrecklichen Stille, die mich als Menschen vernichtet hat. Ich glaube als Mensch, niemals geboren zu sein. Und nun ist wohl auch meine Stunde gekommen, aber mein Schicksal sagt absolut nichts darüber. Es herrscht immer nur dieselbe Stille: Sie wird mich einhüllen und endgültig beseitigen. Gott - das sind meine Blumen, ihre kurze irdische Existenz und ihr Tod. Gott ist mein Wein, der meine Tage getröstet hat. Durch sie habe ich gelebt, durch sie werde ich sterben. Vielleicht bin ich selbst Gott, der heute abend beschlossen hat, das Dunkel zu erreichen, von dem ich geträumt habe. Nur ich allein entscheide, zusammen mit meinen Blumen und meinem Wein: genau deshalb ist nur dieser letzte Akt ein Akt Gottes.
Die gerechte Sache Gleichwohl steht dir es nicht immer zu, zu entscheiden. Oftmals bestimmen andere über dich: eine Krankheit, ein Unfall, und was sonst noch alles...
Paolino In diesem Fall würde ich wie ein Tier sterben, wie ein x-beliebiges Tier, wie eine Pflanze, eine meiner Blumen ...
Die gerechte Sache Und nie als Mensch?
Paolino Ich sagte es dir bereits: vielleicht bin ich wirklich kein Mensch. (müde) Ich wäre gern vor Millionen von Jahren geboren, hätte gern eine große Schafsherde gehabt und wäre gern der einzige Mensch auf der Erde gewesen. Ich hätte dann mein Leben mit ihnen teilen, mich über ihre Geburt freuen und über ihren Tod trauern können. Ich hätte ihre Milch trinken können, um mich zu nähren, und mich in der Nacht mit ihren Pelzen schützen können. Als einer von ihnen hätte ich ihre Sprache gesprochen - andere Menschen hätten ja nicht existiert - und wäre schließlich eines Tages glücklich mit ihnen gestorben.
Das sind natürlich Träume, aber, verstehst du, gegen Abend betrachte ich die weit in der Ferne liegenden Berge: Sie tauchen in die Dunkelheit ein und verschwinden beinahe in einer unendlichen, rätselhaften Stille. Ich liebe es, mir vorzustellen, dort auf den großen, grünen Wiesen, zusammen mit meinen Tieren die stille Nacht zu empfangen. Ich hätte mich dann in ein weißes Fell gehüllt und wäre, mit meinen Tieren eng zusammenliegend, einschlafen.
Das ist der Grund, weshalb ich heute nacht das quälende Gefühl verspüre, ein wenig mein eigener Gott zu sein, und weshalb ich, ohne ein Drama daraus zu machen, diese Entscheidung getroffen habe.
Die gerechte Sache Dann brauchst du mich also wirklich nicht mehr ...
Paolino Ich brauche jetzt überhaupt niemanden mehr. Betrachte einmal diese Blume: Seit acht Tagen gieße ich sie, und jetzt ist sie gekeimt. Während ich auf ihr Keimen wartete, trank ich. Ich trank immer mehr und wartete jede Nacht darauf, daß ich für immer einschlafen würde ...
Denn alle meine Blumen lasten jetzt auf mir. Die Blume, die herausgekommen ist, wird die letzte sein, und ich werde langsam und in Ruhe sterben. Ich verwelke ganz einfach, wie sie.
Die gerechte Sache Aber warum wolltest du, daß gerade diese Blume keimte, um zu sterben?
Paolino Oh nein! Es ging mir nicht um diese besondere Blume. Mein ganzes Leben habe ich, von klein auf, in diesem Gewächshaus verbracht. Stell dir das mal vor! Und während dieser Zeit habe ich unzählige Blumen sprießen und eingehen sehen: Sie verwelken, und dann vertrocknen sie, das ist ihr Tod.
Wenn es schöne Blumen waren, verkaufte ich sie und kaufte mir Wein dafür. Was ich für Mengen an Wein getrunken habe! Ich glaube, daß ich soviel Wein getrunken habe, wie ich meinen Blumen Wasser gegeben habe. Im Winter, wenn es draußen schneite, war ich hier immer allein, und meine Blumen kamen mir immer schöner und größer und ihre Farben immer glänzender vor, da ich alles im Alkohol ertrank, und der niederfallende Schnee war dichter und weißer ...
Die gerechte Sache Das war dein ganzes Leben, weil du nie etwas geändert hast. Warum willst du jetzt damit Schluß machen?
Paolino All diese Blumen kommen plötzlich auf mich zu ... sie ersticken mich ... und in ihrem kleinen, vollkommen bedeutungslosen Tod sind sie jetzt gelb geworden ... Aber alle zusammen ... alle zusammen in einem einzigen Moment stellen einen ungeheuren Umfang dar!
Sie haben bereits die ganze Luft hier herum absorbiert, um sich zu retten, und ich atme nicht mehr ... ich atme nicht ... nur zum Trinken bin ich fähig. Auf diese Weise versuche ich, noch ein wenig am Leben zu bleiben.
(Paolino trinkt müde und gießt die Blumen. Ebenso still wie Die gerechte Sache hereingekommen war, tritt jetzt Ein guter Grund auf. Sie ist wie sie in Grau gekleidet und besitzt auch dieselbe Sanftheit. Sie nähert sich langsam Paolino, setzt sich zu ihm an die gegenüberliegende Seite des Tisches und streichelt ihn lange am Kopf, wie dies auch Die gerechte Sache zu Beginn getan hatte. Dann spricht Sie leise zu ihm.)
Ein guter Grund Da bin ich, Paolino, um dich auf deinem letzten Gang zu begleiten. Wir sind deine beiden guten Schwestern.
Die gerechte Sache hat die Fäden deines Lebens gesponnen, ohne daß du es jemals bemerkt hast, und jetzt ist sie wahrscheinlich am Ende des Spinnrockens angelangt. Deshalb bin ich, Der gute Grund, gekommen, um den Faden durchzuschneiden ... wenn du es willst ...
(Während Ein guter Grund spricht, hat sich Die gerechte Sache vom Stuhl erhoben und vom Tisch entfernt, nach links hin zur Wand, die sie wegen der gleichen Farbe fast ganz aufgesogen hat. Die gerechte Sache wird für den Zuschauer unsichtbar, bis auf das von einem Licht angestrahlte gespenstische Gesicht.)
Paolino Ja, ich will es. Aber zuvor möchte ich, daß auch meine letzte Pflanze stirbt.
(Er schiebt den Blumentopf langsam, beinahe mit Liebe, dem Tischrand zu, bis er mit einem dumpfen Schlag auf den Boden fällt und zerbricht. Die Blume wird im Fallen von der Wurzel abgetrennt. Jetzt ist sie aber von einer bezaubernden Schönheit, noch schöner ohne den Kontakt mit der Blumentopferde, die sie am Leben erhalten hat. Sie wird von einem großen Lichtstrahler angeleuchtet.)
Paolino (wendet sich an einen guten Grund und zeigt auf die Blume): Sieh nur, ein erster Teil von mir ist dahingegangen...
Ein guter Grund Und welcher andere Teil bleibt?
Paolino Mein Wein. Da jetzt alle Blumen tot sind, brauche ich ihn auch nicht mehr.
(mit der gleichen langsamen, beinahe schon sakralen Geste schiebt er die Flasche dem gegenüberliegenden Tischrand zu, bis auch sie hinunterfällt und zersplittert und der Wein sich auf dem Fußboden verbreitet; auch der große Blutfleck wird grell bestrahlt.)
Paolino Jetzt, wo sie tot sind, möchte ich mit ihnen verbunden sein (an die gerechte Sache gewandt) Erinnerst du dich? Ohne Empfängnis geboren, sterbe ich wie Er ... Jesus, heißt er nicht so?... Aber sprecht jetzt nicht mehr, damit ich mich ihnen unbeschwert nähern, mit ihnen sprechen, mich zusammen mit ihnen auf den Tod vorbereiten kann.
Ein guter Grund Das ist noch nicht der wirkliche Tod!
Paolino Sage nichts mehr, ich möchte nur noch Stille um mich herum. Jetzt, da ich weder meine Blumen noch meinen Wein habe, will ich, daß sich eine große Stille über das Gewächshaus legt.
(auch Ein guter Grund ist vom Tisch aufgestanden und hat sich auf die Wand zubewegt, die derjenigen gegenübersteht, an der Die gerechte Sache bewegungslos und mit angestrahltem gespenstischem Gesicht steht. Paolino erhebt sich ganz langsam von seinem Stuhl und kniet vor der abgeschnittenen Blume nieder. Mit unendlicher Sanftheit rupft er ein Blütenblatt ab, dann begibt er sich mit der gleichen Langsamkeit, so als sei es ein Ritus, auf die andere Seite des Tisches und nimmt mit dem Blatt ein paar Tropfen Wein auf. Er kniet jetzt nieder: Er trinkt den Wein von dem Blütenblatt und ißt es dann, traumverloren und wehmütig, auf. Die zwei Frauen nähern sich ihm langsam und fast gleichzeitig und helfen ihm beim Aufstehen; daraufhin setzt er sich wieder mit düsterer Miene still an den Tisch. Die beiden Frauen sprechen leise zu ihm)
Die gerechte Sache Paolino, du hast jetzt deine letzte Blume gegessen und den letzten Tropfen deines Weines getrunken. Nun kannst du in Frieden einschlafen, da du deine letzten Handlungen rein ausgeführt hast.
Die tödliche Einsamkeit hat dich jetzt verlassen, die Melancholie hat sich leise von dir entfernt, deine Alte wird vergeblich am Abend auf dich warten, um mit dir zusammen zu trinken.
Deine Erinnerungen haben sich aufgelöst, und auch der Gott, von dem du sagst, daß er in dir sei, schweigt still. Alle Schatten, auf die du am Morgen gestoßen bist, wenn du hier oben ankamst, und die bei deinem Nachhausegang wieder in das tiefe Dunkel zurücksanken, sind endgültig verschwunden und werden nie mehr zurückkehren.
Du bist jetzt der einzige Mensch auf der Erde, Paolino.
Ein guter Grund Du wirst deine Schafe, ach was!, eine schöne, große Schafsherde auf den hochgelegenen Bergwiesen hüten können...
Die gerechte Sache ... endlich wird eine unveränderliche, heitere und bewegungslose Ruhe auf dich niederkommen ...
Ein guter Grund Du wirst in Frieden leben, Paolino, da du, erinnere dich daran, jetzt der einzige Mensch auf dieser armen Erde geblieben bist.
Die gerechte Sache Du wirst endlich Tier unter Tieren sein können: Katze unter Katzen, wie bei der Begegnung mit deiner ersten Frau.
Ein guter Grund ...und Schaf unter Schafen, wie du es in langen Winternächten erträumtest.
Die gerechte Sache Dein Faden ist jetzt am Ende angelangt und in Kürze wird er durchgeschnitten werden. Aber bevor du einschläfst, sehe dir mit deinen verträumten Jungenaugen, deinen wunderschönen unberührten Augen, diese verlassene und von jeglicher Leidenschaft freie Welt an. Betrachte die Sterne und den Mond, die gerade untergehen...
(die zwei Frauen bewegen sich leise zu dem großen, zentral gelegenen Fenster hin und öffnen es, so daß der klare Sternenhimmel sichtbar wird. Paolino dreht sich um und läuft zum Fenster. Das endlich in vollen Zügen genossene große Schauspiel der Nacht erfüllt Paolino mit Staunen und Freude. Er läuft zum Tisch, nimmt seinen Stuhl, stellt ihn vor das Fenster und setzt sich, dem Publikum den Rücken zukehrend, rittlings auf den Stuhl, wobei er die Ellenbogen auf die Lehne legt; in dieser Position verharrt er, bis sich der Vorhang senkt.)
Ein guter Grund Der Mond geht unter und du wirst dann, wenn er verschwunden sein wird, das traurige Miauen der Katzen, ihr Geschrei, ihre Jammerschreie hören ... : Sie rufen dich, Paolino!
Die gerechte Sache ... und wenn auch die Sterne verschwunden sein werden und der Himmel ganz weiß sein wird, wird ein großes Licht am Horizont aufscheinen: Dies ist der Augenblick, wo die ersten Schafe zu blöken anfangen werden ...: ein monotones und müdes Blöken. Sie wollen, daß du dich zu ihnen gesellst. Jetzt aber hast du die wahre gerechte Sache, deinen Lebenszweck gefunden, und der Faden ist wirklich am Ende angekommen ...
Ein guter Grund ... und schließlich ist auch der gute Grund gekommen, um ihn durchzuschneiden...
Paolino Laßt mich schauen: Im Grunde genommen ist es das erste Mal, und alles ist derartig außerordentlich! Laßt mich diese Stimmen hören, diese Schreie. Sie kommen noch von weit her, eingetaucht in die Nacht! Laßt mich darauf warten, daß sie sich nähern! Laßt mich lauschen! Sagt nichts!
Die gerechte Sache Alles ist in Ordnung.
Ein guter Grund Alles ist in bester Ordnung.
Paolino Sagt nichts mehr! Laßt mich einschlafen, während ich zuhöre. Oh! Jetzt spüre ich, wie ich in diesen traumlosen Schlaf sinke.
Nun bin ich ganz ruhig, das versichere ich euch.
Endgültig ruhig!
(der Vorhang senkt sich langsam über dem eingeschlafenen Paolino)
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