Il Giornale 22 giugno 1975

‘DREHENDES DIAGRAMM’ nach 16 Jahren am "Regio" von Turin.

Viele Schauspieler, Musik im Untergrund

Die Oper vóh Bruni Tedeschi ist eine Kundmachung des Neu-Kapitalismus der ‘boom’- Jahre Tino Carraro als "Sprecher" - Nino Sanzogno hat dirigiert

Rechts seitlich der Bühne erklärt der Sprecher mit einer akademischen Anmut seine zyklische Interpretation der wirtschaftlichen Evolution uund weist auf ein grosses Diagramm , auf welchem die sechs Phasen der Evolution augenfällig zu erkennen sind: der Produktion folgt die Super-produktion, dann die Krise, die Diktatur und Bewaffnung, der Krieg, der Ruin. Die belehrende Konferenz wird ergänzt durch Projektionen, Filmausschnitten und konkretisiert eine musterhafte Bühnenaktion.

Dies ist die Struktur des 'DREHENDEN DIAGRAMMES (Diagramma circolare). Text und Musik von Bruni Tedeschi mit der literarischen Zusammenarbeit von Gian Piero Bona.

Die Oper ist 1959 beim Festival@von Venedig zur Welt gekommen und gestern abend nach langem Schlaf am ‘Teatro Regio’ von Turin wieder erwacht.

Das tragische Schicksal einer Arbeiterfamilie reflektiert, im Drehenden Diagramm die Geschehnisse eines Viertel Jahrhúnderts,, von 1920 bis 1945. Die nach dem Zusammenbruch der 'Wall Street"-Börse von 1929 gefolgten Arbeitslosigkeit und Hunger treiben den Vater dieser Familie zum Selbstmord; der junge Sohn der diktatorischen Herrschaft feindlich gesinnt, wird erschossen, weil er ein Attentat gegen die Staatssicherheit ausgeübt hat; die Mutter kommt bei einem Luftangriff ums Leben; die Tochter, einzige körperliche Überlebende, bewegt sich wie ein Schatten, besessen vom Wahnsinn, inmitten der Trümmern der zerstörten Stadt.

Und in ständigem Kontrapunkt mit der Arbeiterfamilie steht der Geschäftsführer der Fabrik, vom Produktions-dämon beherrscht - und in diesem Sinne nicht weit entfernt vom Direktor Riviere aus "Flug in der Nacht" (Volo di notte) von Dallapiccola - mechanisch mitschuldig an der Dik-tatur wegen seines erhöhten Produktions-rhythmus, und wiederum Opfer bei einem feindlichen Bombenangriff zusammen mit seinen Werksanlagen.

Alberto Bruni Tedeschi, der sich der Musi k und demTheater nur während der knappen freien Stunden widmen kann, er ist im Industriebereich der Pneus aktiv, hat die Figur des Direktors ohne Zweifel aus dem Gesichtspunkt der Autobiographie gesehen. Das "Drehende Diagramm" gestaltet sich wie ein Manifest des erleuchteten Neu-Kapitalismus der Fünfziger Jahre.

Erfasst und verwirklicht in der Zeit des "Wirtschafts-wunder" dennoch schaut das Werk, die Oper, in die Zukunft. Die Krise, die wir zur Zeit effektiv durchmachen - der Ansager, Sprecher war ein guter Prophet - muss nicht durch Diktatur und Krieg gelöst werden, sondern durch “vorausschauende hohe Vernunft. Das “Drehende Diagramm” ist daher eine vorherragende belehrende Oper, ein historischer Auszug, dem man mit Interesse und Aufmerksamkeit folgt, betont durch die rege und flinke Regie von Filippo Crivelli, der Von den neuesten technischen Einrichitungen des "Teatro Regio"' sehr guten Nutzen gezogen hat und nicht weniger von seinen gemachten Erfahrungen des "globalen Theaters'.

Eine Gruppe ausgezeichneter Schauspieler behaupteten sich am “Teatro Regio”. Die Rolle des belehrenden Sprechers gehörte Tino Carraro. Weitere Hauptdarsteller waren Carlo Hintermann, Lina Volonghi, Enzo Tarascio, GabrieleLavia und Ctlaudia Giainotti. Auch entscheidend waren der Beitrag des Bühnenbildners Gianni Quaranta, die Kostüme von Dada Scaligeri, die Realisation der Diapositive und der Fílme Von Naretto und D'Ascola.

Aber im “Drehenden Diagramm” gibt es “auch” Musik. Die Musik begleitet die Oper vom Anfang bis zum Ende im Untergrund und verleiht den Dialogen rnelologische Aspekte (und vermeidet machmal auch die Wahrnehmung der einzelnen Worte trotz der Lautsprecher). Sie erreicht ihre besten Erfolge - wie übrigens auch die Werke von Nono, Berio und Manzoni - in den ausführlichen und deutenden choralen Artikulationen, verwirklicht vom “Regio”- Chor unter der Leitung von Adolfo Fanfani.

Im "Drehenden Diagramm" fehlen die “Solo-Stimmen”. Zum Chor stellt sich nur ein männliches gutes Terzett (Poli, Lormi, Giacomotti). Das Orchester ist immer gegenwärtig und erreicht seine Akmé (Hohepunk) im Zwischenspiel der Heraufbeschwörung der Bombardierungen.

Nino Sanzogno, der vor 16 Jahren die Oper aus der Taufe gehoben hat, hat sich mit leidenschaftlic hem Eifer und ebenso skrupellos hingegeben und demzufolge vom Turiner Orchester ein Ergebnis von beträchtlicher Bedeutung erzielt. Zusammen mit dem Autor und den Darstellern ist er viel applaudiert worden. Am Ende nur ein einziger eindringender Pfiff, vielleicht von einem unzufriedenen Werksangehörigen von Bruni Tedeschi. (Guido Piamonte)